Oscargewinner „Nomadland“: Die Heimat ist überall und nirgendwo
Am 1. Juli kommt der diesjährige Oscargewinner endlich in die wiedereröffneten Kinos. Was darf von „Nomadland“ erwartet werden?
Der Film „Nomadland“ sowie dessen Regisseurin Chloé Zhao (39) räumten bei den vergangenen, wegen Corona stark verkleinerten Academy Awards ab. Irgendwie passte diese unfreiwillig intime Oscar-Zeremonie aber zur Grundstimmung des Dramas, das am 1. Juli 2021 nun doch noch in den deutschen Kinos anlaufen wird. Der einfühlsame Streifen mit einer herausragenden Frances McDormand (63) hat eine hoffnungsvolle wie deprimierende Botschaft – frei nach dem Auge des Betrachters.
Nie wieder Wurzeln schlagen – darum geht es
Binnen kurzer Zeit verliert Fern (McDormand) sowohl ihren Job in der ausrangierten Bergbaustadt Empire im US-Bundesstaat Nevada als auch ihren Ehemann. Kurzum: Alles, wofür es sich vermeintlich lohnt, sesshaft zu sein, wurde ihr genommen. Also beschließt die resolute Fern, das meiste ihres Hab und Guts zu verkaufen, sich einen Kleinbus anzuschaffen und als moderne Nomadin durch die Weiten der USA zu reisen. Stets auf der Suche nach dem nächsten Minijob, um sich irgendwie über Wasser zu halten, macht sie manch eine flüchtige Bekanntschaft mit nachhaltigem Eindruck.
Denn schnell stellt Fern am eigenen Leib fest, dass ein Leben auf vier Rädern alles andere als ein Zuckerschlecken ist. Ob die abfälligen und/oder mitleidigen Kommentare ihrer Familie und Freunde, die harschen Bedingungen für Saisonarbeiter oder die eisigen Temperaturen im Winter: überall und nirgendwo zu Hause zu sein bedeutet ein Leben der Extreme gewählt zu haben. Positiv wie negativ, körperlich wie emotional.
Für die einen Traum, für die anderen Albtraum
„Nomadland“ erzählt über seine rund 110 Minuten Laufzeit ein sehr persönliches Schicksal und tut dies beinahe wie eine Dokumentation. Auf dramaturgisch überspitzte Momente verzichtet Zhao dabei komplett, viele kleine, zuweilen auch banal erscheinende Höhe- wie Tiefpunkte bestimmen Ferns Alltag als Nomadin. Aber wenn sich deine komplette Welt plötzlich um einen baufälligen Wagen herum entspinnt, kann eben schon ein platter Reifen, der streikende Motor oder ein zerbrochener Teller zum Kollaps des fragilen neuen Lebensentwurfs führen.
Manch ein Zuschauer wird „Nomadland“ als todtraurigen, deprimierenden Film wahrnehmen. Andere als hoffnungsvolle und aufrüttelnde Botschaft verstehen. Denn je nach eigener Lebensphilosophie überwiegen für die einen die negativen und für die anderen die positiven Momente im Film. Etwa, wenn Fern bei Eiseskälte bibbernd in ihrer viel zu dünnen Decke den Sonnenaufgang herbeisehnt oder schwitzend ihr Geschäft in einen Eimer verrichtet. Dem entgegen stehen Szenen wie jene, in der Fern ihre Geschichte mit einem anderen Nomaden teilt und er ihr erklärt, dass für sie fortan ein „Auf Wiedersehen“ nie mehr ein „Lebwohl“ sein wird – denn früher oder später begegnet man sich auf der Straße immer wieder.
Sicherheit oder Freiheit? Routine oder Abenteuer? Beides ist gleichsam erstrebenswert wie abschreckend, hat Vorzüge und kostet zuweilen einen hohen Preis. „Nomadland“ zeigt diese Dualität unaufgeregt und entschleunigt, für manche Zuschauer aber wohl zu behäbig. Ein Kleinbus-Drama ist nun einmal kein erzählerischer Ferrari.
McDormands One-Woman-Show
Mal wieder über jeden Zweifel erhaben ist Hauptdarstellerin Frances McDormand. Folgerichtig gab es für sie gar zwei Oscars für „Nomadland“: Als „Beste Hauptdarstellerin“ triumphierte sie im April dieses Jahres bereits zum dritten Mal in dieser Kategorie. Und weil sie den Film auch noch mitproduziert hat, folgte dank der Wahl zum „Besten Film“ gleich noch ein Goldjunge für sie.
Mit McDormand steht und fällt das gesamte Werk. Ihr Spiel ist so nuanciert und uneitel, wie der Film selbst daherkommt. Das kann ein verschmitztes Lächeln hier und ein sorgenvoller Blick da sein – oder beides gleichzeitig. „Nomadland“ ist ebenso eine Milieu- wie Charakterstudie über die freiwillig und unfreiwillig Vergessenen. Und McDormand ihr vom Leben gezeichnetes Gesicht. Wie passend ihr Rollenname im Deutschen ist: Fern sehnt sich nach der Ferne.
Fazit
Mit „Nomadland“ haben Chloé Zhao und Frances McDormand einen bitteren wie süßen Film erschaffen. Auf sehr gemächliche Weise erzählt er von den Strapazen aber auch von den philosophischen Erkenntnissen, die mit einem Leben als moderner Nomade einhergehen können. Etwa, dass der schönste Fleck auf Erden immer jener hinter der nächsten Kurve ist.