„Falling“: Ein Gesamtkunstwerk von und mit Viggo Mortensen
„Falling“: Ein Gesamtkunstwerk von und mit Viggo Mortensen
Am 12. August startet „Falling“ in den deutschen Kinos. Das Regiedebüt von und mit „Der Herr der Ringe“-Star Viggo Mortensen überzeugt mit Tiefe und beeindruckender Bildsprache.
Warum hat Viggo Mortensen (62) noch immer keinen Oscar im Schrank? Diese Frage stellen sich Filmfans und Branchenkenner spätestens seit den Kinoerfolgen „Captain Fantastic – Einmal Wildnis und zurück“ (2016) und „Green Book – Eine besondere Freundschaft“ (2018). Für beide war das dänisch-US-amerikanische Multitalent als „Bester Hauptdarsteller“ nominiert, seine erste Chance in der männlichen Hauptkategorie erhielt Mortensen bereits 2008. Damals ging er trotz seiner beeindruckenden Darstellung im Thriller „Tödliche Versprechen – Eastern Promises“ (2007) leer aus, ebenso wie in den Folgejahren.
Mit „Falling“ startet am 12. August nun das Regiedebüt des „Der Herr der Ringe“-Stars in den deutschen Kinos. Mortensen schrieb auch das Drehbuch, agierte als Co-Produzent, zeichnete für die musikalische Untermalung verantwortlich und spielt die Hauptrolle. Erschaffen hat der 62-Jährige ein erneut Oscar-würdiges Gesamtkunstwerk, das auf ganzer Linie überzeugt – mit einer berührenden tragischen Geschichte, tollen Darstellerleistungen und einem beeindruckenden szenischen und musikalischen Rahmen.
Eine schwierige Vater-Sohn-Beziehung: Darum geht es
Willis Peterson (Lance Henriksen, 81) ist zweifach verwitwet und lebt alleine und verbittert auf seiner ländlich gelegenen Farm im US-Bundesstaat New York. Sein Sohn John (Mortensen) kennt die Wut seines homophoben, rassistischen Vaters, seit er denken kann. Und auch im Alter macht Willis keinen Hehl daraus, dass er den Lebensstil seines offen homosexuell lebenden Sohnes zutiefst verabscheut. Einst versuchte der nach außen hin so stark wirkende Mann aus dem Mittleren Westen, seinen Sohn zu einem „echten Mann“ zu erziehen. Doch der weltoffene, tolerante John distanzierte sich als Erwachsener vollständig vom männlichen Rollenbild seines Vaters, das sich durch Aggressivität und Engstirnigkeit auszeichnet.
Als Willis mit einer beginnenden Demenz kämpft, nimmt ihn John trotz der schmerzhaften Erinnerungen an die gemeinsame Vergangenheit in sein Haus in Kalifornien auf, in dem er mit seinem Ehemann Eric (Terry Chen, 46) und der gemeinsamen Tochter Monica (Gabby Velis) lebt. Dort lässt Willis den negativen Gefühlen seinem Sohn gegenüber freien Lauf – und plötzlich hat John die volle Verantwortung für den Mann, der ihm im Leben am meisten wehgetan hat.
Viggo Mortensen schrieb das Drehbuch von „Falling“ nach einem privaten Schicksalsschlag. 2015 starb seine Mutter Grace Gamble Atkinson, die wie die Hauptfigur Willis an Demenz litt. Der Zeitung „Observer“ erzählte der Schauspieler im Februar dieses Jahres, er habe sich anschließend nur „an Dinge über sie“ erinnern wollen. Das Ergebnis, das vier Jahre später auf die große Leinwand kommt, gebe eher „Gefühle denn Fakten“ wieder, die eigene Familiengeschichte diente Mortensen rein als Inspirationsquelle für eine fiktive Handlung. Den fertigen Film widmete er dennoch seinen beiden Brüdern Peter und Charles Mortensen. Eine der ersten Filmszenen, in der ein junger John eine Ente schießt und sie anschließend mit ins Bett nimmt, hat sich zudem tatsächlich in Mortensens Leben zugetragen, wie er Talkmaster Conan O’Brien bereits 2017 offenbarte.
Aufbrausender Tyrann vs. gutmütiger Ruhepol
Wenn dem Zuschauer eines beim Gang ins Kino auffallen sollte, dann ist es die schiere Anzahl an Schimpfwörtern, die Familientyrann Willis im Laufe des Dramas in den Mund nimmt. In Rückblenden porträtiert Regisseur Viggo Mortensen die Figur (als junger Mann brillant gespielt von dem Schweden Sverrir Guðnason, 42) als aufbrausenden, herrischen und unberechenbaren Macho, der seinem Sohn bereits im Kleinkindalter das Entenschießen beibringt und ihn nach seinem ersten Treffer mit dem toten Tier spielen lässt. Ganz so einfach, wie man zunächst meinen könnte, macht sich Mortensen die Charakterisierung jedoch nicht. Stattdessen bekommt auch der psychologische Hintergrund ausreichend Raum. Mehrmals sind in die Handlung indirekte Hinweise darauf eingewoben, dass auch Willis in jungen Jahren unter einem strengen Vater gelitten hat und schlimme Wunden davontrug. Seine voranschreitende Krankheit erzeugt seitens der Zuschauer zudem Mitgefühl für den zerbrechlichen alten Mann, der immer wieder die Identitäten seiner beiden verstorbenen Ehefrauen durcheinander wirft.
Dem gegenüber steht Mortensens eigene Figur, der liebevolle und gutmütige John. Während des fast zweistündigen Films bleibt er fast durchgehend ruhig und nimmt die Angriffe seines Vaters, die er bereits sein gesamtes Leben lang erträgt, mit Anmut hin. Er strahlt eine emotionale Stabilität und Stärke aus, die angesichts der schwierigen und teils traumatisierenden Erlebnisse seiner Kindheit und seines Erwachsenwerdens absolut verblüffen. Lediglich auf dem Höhepunkt der Handlungskurve verliert er einmalig seine Selbstbeherrschung; ein Streit zwischen ihm und seinem Vater eskaliert in ein lautstarkes Wortgefecht, das an Emotionalität kaum zu überbieten ist. Als Drehbuchautor, Filmemacher und Schauspieler gibt der 62-jährige Viggo Mortensen hier einen wichtigen Einblick in das Seelenleben seiner Hauptfigur und macht deutlich, dass es auch bei dem ach so gefasst wirkenden John unter der Oberfläche heftig brodelt. Die ruhige Fassade – eine Art Schutzpanzer – scheint über viele Jahre antrainiert, um den zutiefst verletzenden Worten des Vaters keine Macht (mehr) zu geben.
Das Fazit: Warum man „Falling“ (mehrmals) sehen sollte
Die Geschichte von „Falling“ ist relativ schnell erzählt und in der langen Hollywood-Geschichte nicht neu. Viggo Mortensen inszeniert sie allerdings auf eine zutiefst berührende und mitfühlende Art und Weise, sodass sie die Zuschauer noch lange nach dem Abspann beschäftigt. Er gibt den unterschiedlichen Gefühlswelten seiner Figuren ebenso viel Raum wie der Fantasie des Publikums, das die Geschichte nach dem offenen Ende für sich selbst zu Ende spinnen muss.
Als Darsteller beweist Mortensen erneut, was er eigentlich niemandem mehr beweisen muss: dass ihm vielschichtige, anspruchsvolle Rollen liegen wie kaum jemand anderem. Allein durch seine Mimik sagt der Star aus dem US-Bundesstaat New York mehr als tausend Worte, das Zusammenspiel mit seinen talentierten Kollegen – darunter die ebenfalls Oscarnominierte Laura Linney (57) – ist harmonisch. Dabei wollte Mortensen die Hauptrolle in seinem Regiedebüt ursprünglich gar nicht selbst übernehmen, wie er im Interview mit dem „Observer“ ebenfalls preisgab. Allein die Einsicht, dass sein Stoff ohne ihn als prominentes Zugpferd keinen Finanzier finden würde, bewog ihn dazu, nicht nur hinter, sondern auch vor der Kamera zu stehen.
Was „Falling“ allerdings zu einem Kunstwerk macht, das als Ganzes betrachtet werden muss, ist insbesondere Mortensens Wirken abseits des Rampenlichts. Der Einfluss des Leinwandstars, der auch Fotograf, Dichter, Maler und Musiker ist, zeigt sich in Bezug auf jeden Aspekt der Filmproduktion. So fällt direkt eine besondere Ästhetik hinsichtlich der szenischen Gestaltung und Reihenfolge auf, die durch vorwiegend ruhige Klaviermusik untermalt wird. Auch sie stammt von Viggo Mortensen höchstpersönlich, der Schauspieler war zuvor unter anderem bereits auf dem Soundtrack von „Der Herr der Ringe: Die Rückkehr des Königs“ (2003) zu hören. Die Gesamtästhetik bleibt jedoch oftmals frei interpretierbar und offenbart sich dem Publikum nicht direkt in vollem Umfang, weshalb es sich lohnt, beim Gang ins Kino genau aufzupassen – oder sich „Falling“ gleich mehrmals anzusehen.